Wenn es anfangs des Jahres kalt ist, dann kommen regelmäßig an die neunzig Karate-Enthusiasten nach Grünwald. Aus England reist ihr Referent Iain Abernethy (7.Dan) an. So auch im Januar 2024, als die Kata Jitte, ein stilisierter Kampfablauf, zwei Tage lang Thema seines Seminars war.
Iain Abernethy warnte uns zu Beginn. Nicht nur körperlich wird diese Kata eine Herausforderung sein, sondern auch mental. Er betonte, dass alle Techniken nur an einem Gegner angewendet werden. Kein zweiter, dritter oder sogar zehnter Gegner - so wie es eine geläufige Überlieferung will - greifen an. ”Blödsinn!”, hatte Mabuni Kenwa (1889-1952), der Gründer des Shitō-Ryū, kommentiert. Mabuni meinte, dass selbst wer die Kata vollendet beherrscht, kann es trotzdem nicht mit mehreren Angreifer aufnehmen. Die Jitte ist eine Bunkai-Konzept für einen Gegner, vor dem man immer steht. Grundlegend ist der Winkel, den uns die Jitte vorgibt. Im richtigen Winkel zu stehen, betonte Iain, entschlüsselt uns nicht nur ein optimales Bunkai, sondern erhöht die Effektivität der betreffenden Technik. Erst dann kann der Karateka seinen Angriffsvorteil suchen.
Auf was es da alles noch zu achten galt! Die sogenannte Begrüßung am Anfang! Mit der linken Hand umklammern wir die rechte Faust auf Kinnhöhe. Wir begrüßen so unseren Gegner in der Jitte, Jion und Ji’in. Das ist eine alte Behauptung, aber nach Iain’s Meinung wenig glaubwürdig. ”Man hört Hufe, sieht aber ein Einhorn.”, sagt er anderer Stelle. Wer würde schon winkend - so wie als Gruß üblich - in eine Auseinandersetzung gehen? Im Gegenteil es ist ein Griff an die Gurgel. Um nach dem Hals zu greifen, muss man ihn sicher lokalisieren. Eine Hand greift von hinten zu, die andere drückt den Hals zusammen. An Jitte, Jion und Ji’in demonstriert Iain Abernethy, dass bereits diese erste Stellung ein eigenständiges Bunkai erfordert. ”Nun hört man Hufe, sieht aber ein Pferd”.
Neben den konkreten Anwendungen in jeder Stellung gab er weitere Hinweise. Von der Fußstellung aus nach oben zu den Armen denken, die den Angriff ausführen. Stimmt die Stellung nicht, verlieren Schläge, Tritte und Stöße an Wirkung. Wir strengten uns an und lernten für jede Stellung ihre kämpferische Anwendung.
Damit nicht genug. Wie achtundzwanzig lose Fäden verknüpften wir in der letzten halben Stunden des Samstags alle Stellungen und Angriffe. Nach fast sechs Stunden stand unser Flow Drill der Jitte. Unserer Trainingspartner wurde hintereinander achtundzwanzig Mal nach den Vorgaben der Jitte angegriffen.
Am Samstagabend waren die meisten sehr zufrieden, aber auch erschöpft. Wir hatten die Herausforderung, das Bunkai der Jitte in einem Durchlauf durchzuführen, gemeistert. Am Sonntag lehrte uns Iain Abernethy auf dieser Basis, wie man den Drill mit Hand-Makiwaras übt. Unser Partner hielt das Schlagpolster hin. Wie bei einem Boxsack schlugen wir zu und es ging Schlag auf Schlag durch den Jitte-Drill. Drei Stunden lang hörte man in der Turnhalle nur das dumpfe Auftreten von Fäusten auf den Polstern. Je lauter, umso wirkungsvoller trafen die Übenden.
Gegen Sonntagmittag waren wir dort, wo mental jeder Karatelehrgang endet. Mit Bescheidenheit drückte es Iain Abernethy so aus, ”Nicht in Allem kann ich ein Experte sein, aber ich strebe an, wenigsten in Nichts ein Anfänger zu sein (I can’t be an expert in everything, but aim to be a beginner in nothing.)” Beim Abschied erhielt Iain Abernethy für seine ausgezeichnete, oft humorvolle Präsentation langen und begeisterten Applaus.
Das nächste Seminar mit Iain Abernethy in Grünwald ist bereits gebucht. Es findet am 18. und 19. Januar 2025 beim TSV Grünwald e.V. statt.
Peter Henkel
Erschienen:
- BKB Homepage, Februar 2024
- Grünwalder Isar-Anzeiger, 25.01.2024