Mitte Januar 2025. Stürmischer Applaus brauste durch die Grünwalder Mehrzweckhalle. Über achtzig Karate-Enthusiasten klopften sich nach sechs Stunden Training auf die eigene Schulter. An diesem Samstag waren sie zugleich erschöpft und erleichtert. Unter der Anleitung ihres Trainers lain Abernethy (7. Dan Karate) aus England hatten sie die praktischen Anwendungen (Bunkal) der Tekki Sandan gemeistert. Ihr Applaus honorierte auch seine herausragende Leistung. In unzähligen, kleinen, didaktischen Schritten hatte er sie durch das Bunkai dieses schwierigen Kampfsystems geführt.

Anfangs hatte es so ausgesehen, als ob sie diesen imaginären Elefanten, eben dieses schwierige Bunkai der Tekki Sandan, nie meistern würden. Denn ihre praktischen Anwendungen werden nur selten gelehrt. Die Bedeutung der Naihanchi, wie die drei Tekki Katas auch heißen, ist peripher und für Turniere bedeutungslos. Katas sind standarisierte Übungsformen im Karate. Besonders die Tekki Sandan war den meisten von weit her Angereisten ein Rätsel gewesen, wenn sie neben ihren Ablauf an ihre Anwendungen dachten. Doch lain Abernethy hatte in sechs Stunden Seminar das Bunkai der Tekki Sandan entzaubert.

Zunächst hatten sich viele wie Blinde gefühlt. Wie werden sie wohl mit dem anspruchsvollen Bunkai der Tekki Sandan zurechtkommen? lain Abernethy säte Optimismus und bemühte eine Hindu-Fabel, um zu motivieren. In der Fabel sollte ein Elefant von Blinden beschrieben werden. Wie Blinde führte lain die Teilnehmer an das Bunkai heran. Körperteil auf Körperteil hatten die Blinden den Elefanten angefasst und beschrieben. Nicht anders ging lain in seinem Seminar vor. Er präsentierte Schritt für Schritt für jeden Abschnitt in der Kata Tekki Sandan eine oder mehrere Anwendungen, mit der ein Gegner dominiert werden konnte.

Daher glichen die Abwehr und Angriffe der Tekki Sandan oft den Körperteilen eines Elefanten: Lang und verdreht wie ein Rüssel, groß wie ein Ohr, fest wie der Fuß einer Säule, klein und haarig wie der Schwanz und wie eine riesige Masse mit ein paar Borsten daran. Die Konzentration der Karatekas war stundenlang am Anschlag gewesen. Tekki-typisch waren sie auf einer Linie hoch und runter galoppiert. Sie hatten Arme über sich hinweggehoben und den Gegner mit Hebeln auf Linie gehalten. Und schließlich Punkte anvisiert, die sich für einen Schlag anboten. Und am Schluss, kurz vor 18 Uhr, als jede der über 30 Bewegung sowohl einzeln als auch flüssig hintereinander zusammenpassten, sah ihr Bunkai endlich wie ein Bunkai der Tekki Sandan aus.

Oder wie der imaginäre Elefant aus der Hindu-Fabel, den die Blinden zwar über seine vielen Körperregionen erforscht hatten, und am Schluss doch nur wie ein Elefant aussah.

Als der Samstag zu Ende ging, hatte lain Abernethy auch kurz zu der Geschichte der Naihanchi Katas, zu denen die Tekki Sandan gehört, referiert. Sokon Matsumura (1796-1893) führte Naihanchi in das Karate ein. Einer seiner Schüler war 'Anko' Yasutsune Itosu (1830-1915) auf Okinawa. Er glaubte, dass diese Kata sowohl die „leichteste als auch die schwierigste Kata war“.

Neben den fünf Heian Katas entwickelte Itosu die drei Naihanchi Formen, die wir heute unter Tekki Shodan, Nidan und Sandan kennen. Sein beiden berühmtesten Schüler waren Kenwa Mabuni (der Gründer des Shito-Ryu) und Gichin Funakoshi (der Gründer des modernen Shotokan Karate in Japan). Funakoshi schrieb in seinen Schriften, dass Itosu vom ihm verlangt hatte, dass er jede der drei Tekki Katas mehr als drei Jahre praktizieren sollte. Tekki Shodan, Nidan und Sandan kommen ohne spektakuläre Sprünge oder extravagante Schläge aus. Die drei Katas mit ihren Schritten zur Seite sind auch keine Spezial-Katas für den Kampf in einer engen Gasse, in einem Gang oder auf einem Boot. Mit ihren Techniken gewinnt man keine Wettkämpfe. lain fand dieses Aschenputtel-Dasein schade und betonte, dass die Naihanchi Katas jedem Karateka „sehr viel mehr zu bieten haben“.

Im Sonntagsseminar zeigte lain Abernethy, dass noch mehr in den Naihanchi Katas steckte. Wir konzentrierten uns auf die Tekki Shodan und Sandan und zogen unsere gepolsterten Handschuhe (sogenannte Hand-Makiwaras oder Pads) an. Sie dienten als bewegliches Ziel zum Zuschlagen. Selbst wenn wir nun ein Ziel und die Bewegungen der Katas als Vorgabe hatten, lains Training blieb eine Herausforderung. Wie so oft im Karate wiederholten und übten wir jede Bewegung der beiden Katas viele Male. Wir sollten uns ihre Bewegungsmuster solange in unserem Kleinhirn einbrennen, bis jeder Schlag auf den Hand-Makiwaras einen satten Klang ergab. lain hatte dafür ein Merksatz. In einem Kampf oder Partnertraining „lernt ihr nicht, in dem ihr gewinnt oder verliert, sondern indem ihr macht, was gemacht werden muss.“ Beide Katas bieten dazu einen Schatz an Bewegungen, Schlägen und selbst Tritten an.

Die Überraschung war daher, dass sich Tekki Shodan und Sandan hervorragend zum Schlagtraining eigneten. Damit wurde ihre exponierte Stellung deutlich. Sie waren absolut keine Nischen-Katas. Vielmehr vermittelte uns lain Abernethy, dass die Naihanchi Katas „viele hochwirksame Techniken und Konzepte“ enthalten, „die für heutige Kampfsportler von großem
Wert sind“.

Alle, die dieses Seminar auf die Beine stellten, danken den Teilnehmern für ihre Zeit in Grünwald, ihr Lob und die oft sehr lange Anreise. Mit großer Anerkennung danken sie lain Abernethy für seine hervorragende Präsentation und das sehr lehrreiche und didaktisch gelungene Seminar. Viele, die von Karate fasziniert sind, hat er so an diesen zwei Tagen aus dem Winterschlaf gerissen. Wir freuen uns auf sein nächstes Seminar, am 10. und 11. Januar 2026, beim TSV Grünwald e.V.. Ausschreibung und Anmeldung werden zeitnah auf unserer Homepage veröffentlicht.

Peter Henkel

Anwendung der Anfangsbewegung (Gruß)

(Foto: Peter Henkel)

Die Teilnehmer folgen den Erklärungen von Iain Abernethy

(Foto: Peter Henkel)

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